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Der Physiologe Walter Rudolf Hess (1881-1973) war ein Pionier in der Nutzung der Filmtechnik für medizinische Forschung und Lehre. 1928 stellte er zusammen mit dem Chirurgen Paul Clairmont (1875-1942) den Antrag an die Universität Zürich, „eine kinematographische Zentralstelle für die Bedürfnisse der medizinischen Fächer einzurichten“ (StAZH Z70.2773). An der Charité in Berlin hatte Adolf von Rothe 1922 eine solche Abteilung eingerichtet und für die Aufnahme chirurgischer Eingriffe eigene Geräte entwickelt (Ernst Degner: „Medizinische Kinematographie“, in: Alfred Hay: „Photographisches Praktikum für Mediziner und Naturwissenschaftler“, Wien, 1930, S. 307.) Hess begründete die Einrichtung einer zentralen Stelle auch mit dem technischen Fortschritt: Die Einführung billigerer Filmformate werde bald zu einem Aufschwung der Anwendung in Forschung und Lehre führen (vgl. auch den Überblick aus dem Jahr 1930 von Hay). Hier kannte er sich aus. Er selbst nutzte eine der ersten Handkameras für 16 mm, die die Firma Bell & Howell in Chicago ab 1923 produzierte (Typ Filmo 70).
Die Einrichtung einer zentralen technischen Stelle wurde an der Universität Zürich nicht verwirklicht und so produzierte Hess seine Filme selbst. In seiner autobiographischen Skizze von 1963 schreibt er: „Cinematography was used extensively from 1927 on as a further aid in recording observations, it enabled us to make detailed comparisons between symptoms of experiments separated from one another by years. This would have been impossible by reliance on verbal notes alone.“ („From Medical Practice to Theoretical Medicine“, in: Perspectives in Biology and Medicine, 6, 1963, S. 416).
Im Antrag lassen sich zwei Hauptargumente für die Verwendung von Film in medizinischer Forschung und Lehre zusammenfassen. Erstens ermöglichte der Film die Sichtbarmachung des Unsichtbaren (durch Zeitlupe, Zeitraffer, Vergösserung, optimaler Beobachtungsstandpunkt, Trickfilm, Röntgenfilm) und die Reproduktion und Rekonstruktion durch wiederholte Betrachtung. Zweitens konnten diese Ergebnisse als Forschungsbelege und für die Verbreitung des Wissens dienen. Für letztere Intention wurden in der Regel Filme neu produziert, aber häufig mit Material aus dem Labor oder dem OP. Der gezeigte Film war „für den externen Gebrauch“ geschnitten und mit Zwischentiteln versehen worden. Hess nutzte die Techniken Zeitlupe, Nahaufnahme und Messaufbauten (er ist der Mann mit der Stange in den letzten Einstellungen) um seine Thesen zu visualisieren.
Von Leander Diener, Lehrstuhl für Medizingeschichte
Der Film „Beispiele zur Koordination somatomotorischer Funktionen“ entstand als Demonstrationsbeitrag von Walter Rudolf Hess zur 23. Tagung des Schweizerischen Vereins der Physiologen und Pharmakologen vom 3. und 4. Juli 1943 in Genf. Hess knüpfte mit dieser Demonstration an eine Filmpräsentation an, die er im Januar desselben Jahres in Zürich während der 22. Tagung des Vereins gegeben hatte.
Während dieser ersten Filmpräsentation am 30. Januar 1943 hatte Hess über die „extrapyramidale Motorik“ (das extrapyramidale System übernimmt wichtige Aufgaben in Zusammenhang mit der Bewegungskontrolle) referiert und dabei zwei neue Begriffe, „teleokinetisch“ und „ereismatisch“, eingeführt. Er hatte darauf hingewiesen, dass jedes motorische Geschehen aus zwei verschiedenen physikalischen Komponenten besteht: Einerseits gibt es die beschleunigenden projektiven, „teleokinetischen“ Kräfte (auch „Antriebskräfte“), andererseits die reaktiven stützenden, „ereismatischen“ Kräfte (auch „Steuerungskräfte“). (Helv.Physiol.Acta 1, C 3, 1943)
Der Demonstrationsbeitrag „Beispiele zur Koordination somatomotorischer Funktionen“ vom Juli 1943 führte die physikalische Analyse der zwei Kräftegruppen einer physiologischen Bewegung weiter aus. Hess glaubte, „daß die zentrale organisatorische Leistung nur dann richtig verstanden werden kann, wenn das Kräftespiel, wie es der Bewegung zugrunde liegt, richtig begriffen ist“. (Helv.Physiol.Acta 1, C 62, 1943) Die beiden Beispiele, das Knüpfen von Knoten und das Sprechen, sollen im Film die Komplexität von „Ziel- und Zweckbewegungen“ vorführen.
Nach dieser Einführung zeigte Hess mithilfe eines bekannten physikalischen Phänomens, der Rückstosskraft, den zweiteiligen biomotorischen Mechanismus mit drei Turnern vor, die einzelne Kräftegruppen symbolisierten. Dieses Beispiel kommentierte Hess mit Anmerkungen zum Verhältnis von Antriebs- und Stützkräften, bzw. von teleokinetischen und ereismatischen Kräften.
Die rein physiologische Beschreibung von agonistischen und antagonistischen Muskeln, so die heute gültige Bezeichnung der beschriebenen Phänomene, war zu Hess’ Zeit keineswegs neu. Bereits im 17. Jahrhundert hatte René Descartes diesen Mechanismus angedacht, und im frühen 20. Jahrhundert hatte Charles Scott Sherrington ein weiterhin gültiges Gesetz über den doppelten Mechanismus der Bewegung formuliert. Hess’ Leistung lag vielmehr in zwei anderen Punkten. Erstens brachte er in seiner Forschung das zweiteilige motorische Geschehen mit dem Zentralnervensystem in Verbindung. Die beiden Kräftesysteme konnten nun in zwei verschiedenen Innervationssystemen lokalisiert werden (das teleokinetische pyramidale Innervationssystem in kortikalen und das ereismatische extrapyramidale Innervationssystem in subkortikalen Arealen). Hierfür konnte Hess auf seine Stimulationsxperimente am Zwischenhirn von Katzen zurückgreifen, für die er 1949 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet werden sollte. Hess konnte auf diese Weise die komplexen physiologischen Vorgänge während einer Bewegung als Hirnfunktionen in kortikalen und subkortikalen Hirnarealen beschreiben. Im Film selber spielte dieser Zusammenhang zwischen den zwei Kräfte- und Innervationssystemen keine grosse Rolle, weil primär die physikalischen Mechanismen gezeigt werden sollten. In seinem Referat, das er während des Films hielt, ging Hess jedoch auf die beschriebenen neurophysiologischen Aspekte ein.
Zweitens zeichnete sich Hess als Forscher dadurch aus, dass er das Medium Film als wissenschaftliches Instrument für seine Forschung verwendete. Der Film „Beispiele zur Koordination somatomotorischer Funktionen“ ist zwar nicht selbst wissenschaftlich produktiv, weil er einen längst bekannten Sachverhalt medial umsetzte und filmische Mittel wie z.B. Zeitlupenaufnahmen nicht als tatsächliche Analysemittel, sondern eher als Indikator von Wissenschaftlichkeit verwendete. Darin unterscheidet sich der Film „Beispiele zur Koordination somatomotorischer Funktionen“ markant von den Filmaufnahmen von Hess’ Stimulationsexperimenten an Katzen, die sich ebenfalls im wissenschaftlichen Nachlass von Hess befinden: Diese sind gerade darum interessant, weil sie den Film zur wissenschaftlichen Analyse verwenden und produktiv machen. Die vorliegende Filmaufnahme zeigt jedoch, wie der wissenschaftliche Film der argumentativen Einführung und Demonstration eines Forschungsgegenstandes, nämlich die Organisation und Koordination von somatomotorischen Funktionen im Gehirn, vor einem Fachpublikum dienen konnte.